Franz Vallée über die Entwicklungsdynamik in der Handelslogistik
Experteninterview:
− Franz Vallée über die Entwicklungsdynamik in der Handelslogistik −
Rasante Veränderungen in der Handelslogistik erfordern Anpassungen, die für den Laien nicht gleich offensichtlich sind. Dabei ist eine dauerhafte Sicherstellung der Aktualität von überlebenswichtiger Bedeutung. Prof. Dr. Franz Vallée, Stiftungsprofessor und Leiter des Masterstudiengangs Logistik der Fachhochschule Münster, beantwortete in der LogimatDaily dringende Fragen und bot einen Expertenüberblick über die neusten Trends und Entwicklungen.
LogiMAT Daily: Herr Professor Vallée, ausgelöst durch Industrie 4.0 und den Boom im Onlinehandel durchlebt die Logistik derzeit gewaltige Veränderungen. Was muss ein Unternehmen jetzt tun, um auch in den kommenden Jahren konkurrenzfähig zu bleiben?
Prof. Franz Vallée: Eine Vielzahl von Geschäftsmodellen wird sich radikal verändern. Gerade der Handel muss sich die Frage stellen, welchen Wertbeitrag er für den Kunden erbringt. Unternehmen müssen dies erkennen und organisatorisch darauf vorbereitet sein, schnell ihre Geschäftsprozesse an die Anforderungen des Marktes anzupassen. Dazu bedarf es einer leistungsfähigen, aber flexibel änderbaren IT, da nur durch Transparenz effektive und effiziente Abwicklung möglich ist!
Wo liegen die größten Hürden in der Umsetzung dieser Strategien?
Die größten Hürden liegen wie so häufig bei den Menschen. Zum einen ist es die Gruppe, die gerne an Vergangenem festhält und einen Wandel nicht oder zu spät begeht. Zudem werden Zukunftschancen durch zu pessimistische Einschätzungen und zu wenig Risikobereitschaft verpasst und im schlimmsten Fall anderen überlassen. Zum anderen müssen wir immer mehr bereit sein, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen. Sei es zu den Lieferanten, zu Dienstleistern oder zu Softwarehäusern. Hier fehlt vielen die echte Bereitschaft, Wissen und Erfolge zu teilen und wirklich partnerschaftlich miteinander umzugehen.
Viele Unternehmen nehmen neben dem Filialgeschäft den Onlinehandel jetzt erst auf. Welchen Einfluss hat die Endkundenbelieferung auf die Prozesse und die Technik in bestehenden Logistikzentren?
Die Endkundenbelieferung führt naturgemäß zu kleineren Sendungsgrößen und damit zu aufwendigeren Retouren und Kommissioniervorgängen. Die Erfolgsfaktoren für einen zufriedenen Kunden sind Individualität, Geschwindigkeit, Komfort und natürlich auch Kosten. Vor diesem Hintergrund müssen die Prozesse im Logistikzentrum sehr stark auf Effizienz getrimmt werden. In Hochlohnländern wird dies durch immer mehr Automatisierung erfolgen müssen. Die einzusetzende Technik muss dabei sehr flexibel sein, hier sind weitere Innovationen zwingend notwendig.
Kleinste Bestellmengen, kurze Lieferzeiten und große Artikelspektren, wie sie im Onlinehandel üblich sind, treiben jeden Lagerbestand in die Höhe. Wie kann man Bestände optimieren, ohne an Liefersicherheit zu verlieren?
Eine Bestandsoptimierung setzt immer eine gute Prognose des Absatzverhaltens voraus, da das Ziel der jederzeitigen beziehungsweise schnellen Lieferfähigkeit in vielen Unternehmen mindestens so hoch gewichtet wird wie möglichst niedrige Bestände. Natürlich wird der Kunde immer komplexer und weniger berechenbar. Wer jetzt aber den Kopf in den Sand steckt, wird entweder durch unwirtschaftlich hohe Bestände oder durch fehlende Lieferbereitschaft Geschäft verlieren. Gute Prognosemodelle auf unterschiedlichen Aggregationsebenen und gezielte Kundenansprache sind die Erfolgsfaktoren. Es gilt, die vorhandenen Daten (leider Big Data) intelligent zu nutzen. Hier sind wir weder bei den Algorithmen noch auf Anwendungs- oder Softwareseite nennenswert weit. So kennen wir durch Kundenkarten und intelligente Kassensysteme das Kaufverhalten der Vergangenheit, dies aber mit Wetterprognosen, gezielten Marketingkampagnen und Absatzprognosen zu koppeln, fällt noch schwer.
Onlinehändler berichten, dass montags oft dreimal mehr Aufträge zu bearbeiten sind als freitags, weil die Kunden am Wochenende Zeit haben zu bestellen. Wie kann eine automatisierte Logistik damit umgehen, die ja auf eine gleichmäßige Auslastung angewiesen ist?
Das Zauberwort ist hier Multichannel-Logistik. Montags wird fast ausschließlich das Onlinegeschäft bearbeitet, an den anderen Tagen verstärkt das stationäre Geschäft. Die automatisierten Anlagen müssen natürlich groß genug ausgelegt werden, Spitzen müssen gegebenenfalls manuell abgewickelt werden. Auch wenn gezielte Aktionen stattfinden, um Kunden an schwächeren Tagen zum Bestellen zu motivieren, werden sich Schwankungen nie komplett nivellieren lassen. Diese müssen dann mit flexiblen Personalkonzepten gelöst werden.
Auch das Retourenmanagement stellt viele Onlinehändler vor Probleme. Was ist hier zu beachten?
Mit Retouren muss man leben, sonst ist man nicht wettbewerbsfähig. Der Kunde setzt heute eine kostenlose, für ihn einfache Retourenabwicklung voraus. Ein Stellhebel ist die Reduzierung der Retouren durch Anreize (etwa Gutscheine, wenn bei zwei Bestellungen nicht retourniert wird) und Selbsteinsicht der Verbraucher (Aufzeigen der ökologischen Konsequenzen von Retouren). Ansonsten müssen Retouren effizient abgewickelt werden. Beispielsweise ist die Frage zu klären, wohin der Kunde idealerweise seine Retoure senden oder abgeben soll. Bei internationalen Retouren kann eine nationale Bündelung vorab sinnvoll sein.
Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Softwareseite? Lassen sich die bestehenden Warehouse- Management-Systeme in die Onlinewelt ein- beziehungsweise anbinden oder sind hier grundlegende Investitionen nötig?
Viele Unternehmen bauen für einen Onlineshop und dessen logistische Abwicklung zunächst auch systemseitig eine zweite, unabhängige Welt auf. Erst wenn über Multichannel-Logistik nachgedacht wird, stellt man fest, dass auch die IT-Systeme vereinheitlicht werden müssen. Traditionellen Warehouse-Management-Systemen fehlen da aber notwendige Funktionalitäten. Zu nennen sind hier Bestandssperren oder auch intelligente Einbindung von Fulfillment-Abwicklungen. Hier sind grundlegende Neuerungen zu erwarten, da diese WMS-Systeme zumeist nicht für den Onlineeinsatz entwickelt wurden.
Neben den Herausforderungen im Lager scheinen auch die Probleme mit der letzten Meile nicht wirklich gelöst. Wo sehen Sie in der Kundenbelieferung noch Entwicklungspotenzial?
Hier gilt es, kreative Ansätze zu forcieren. Die Belieferung in den mit PIN-Code gesicherten Kofferraum eines Pkw ist ein Ansatz. Oder der „Click and Collect“-Ansatz, wo der Kunde nach einer Onlinebestellung den fertig kommissionierten Warenkorb selbst abholt. Und warum soll die letzte Meile nicht via App über die Nutzung vorhandener Strukturen wie Taxi, Lieferwagen oder Privatwagen geregelt werden. Hier müssen nur intelligente Anreizsysteme geschaffen werden.
Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Handel, Industrie und Logistikdienstleister verbessert werden? Muss wirklich jeder alles vorrätig haben?
Natürlich nicht. Eine wirklich gut zusammenarbeitende Kette aus Industrie, Dienstleistern und Handel wird Kosten- und Wettbewerbsvorteile erzielen! Nicht ein einzelnes Unternehmen gewinnt den Wettbewerb, sondern die beste Supply Chain! Doch die echte partnerschaftliche Zusammenarbeit setzt Vertrauen voraus. Man muss die richtige Ehe eingehen. Ob dies gelingt, ist fraglich – wie im wirklichen Leben mit Beziehungen. Aber eins ist sicher: Wer seine Ansprüche zu hoch schraubt, wird letztlich nie einen Partner finden.
Eine Frage zum Schluss: Werden wir in der Zukunft das Haus zum Einkaufen überhaupt noch verlassen müssen?
Natürlich. Der Verbraucher liebt auch das Kauferlebnis im Laden vor Ort, der Handel wird weiter an Themen und Erlebniswelten arbeiten. Daneben wollen wir Verbraucher aber auch bequemes Einkaufen, jederzeit. Das Onlineshopping erfolgt dabei nicht zwingend nur zu Hause. Wir wollen immer mehr von überall einkaufen. Dazu wird es weitere Techniken wie smarte Brillen und Uhren geben. Erfolgreich wird der Handel nur, wenn er alle Kanäle bedient.
Das Gespräch führte Tobias Schweikl, LogiMAT Daily.
Veröffentlicht am 10.12.2014 in der LogiMAT Daily, der offiziellen Messezeitung der LogiMAT.
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