Vendor-Managed Inventory (VMI) in der humanitären Logistik
Was ist Vendor-Managed Inventory?
VMI oder Vendor-Managed Inventory ist in der kommerziellen Logistik ein beliebtes Mittel, um die Effizienz der Lieferkette zu erhöhen. Der Lieferant erhält Zugriffsmöglichkeiten auf die Lagerbestandsdaten und die jeweilige Nachfrage und übernimmt die Verantwortung für die Bestände in der Gänze. Der Kunde darf dabei von einer an den schwankenden Bedarf angepassten Versorgung des Bestandes ausgehen.
Unterschieden werden im Wesentlichen drei Konzepte von VMI, die allesamt in der Logistik Anwendung finden. Klassisches VMI liegt vor, wenn der Kunde in Eigenregie seinen Verbrauch ermittelt und dem Lieferanten mitteilt. Dieser übernimmt dann selbstständig die Nachlieferung zu einem von ihm gesetzten Liefertermin. Beim Continuous Replenishment, einem VMI, welches häufig in der Industrie zum Einsatz kommt, führt der Lieferant Besuche beim Kunden durch und ermittelt dort vor Ort den Bestand. Gleichzeitig liefert er die beim vorangegangenen Besuch ermittelten Bestände bei einem jeden Besuch nach. Außerdem existiert das Consignment Inventory. Hier übernimmt der Lieferant die bedarfsgerechte Bestückung des Händlerlagers und übt dabei im Grunde genommen die Inhaberschaft des Lagers selbst aus.
Vendor-Managed Inventory in der humanitären Logistik
Vendor-Managed Inventory (VMI) hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmend Anwendung gefunden. VMI basiert auf einer vertrauenswürdigen Beziehung zwischen Zulieferer und Händler. Die Verantwortung des Lieferzeitpunktes und der Liefermenge liegt dabei in der Regel beim Zulieferer. Damit VMI in dieser Form funktioniert, muss der Händler dem Zulieferer Echtzeitinformationen über seinen Lagerbestand zur Verfügung stellen. Das erhöht die Reaktionsgeschwindigkeit auf veränderte Bestände und Schwankungen können durch proaktives Agieren besser gehandhabt werden. Neben dem Vorteil, dass durch VMI die Haltungskosten gesenkt werden können, sinken auch die Durchlaufzeiten um etwa ein Fünftel. Aus regemäßigen und pünktlichen Lieferungen resultiert außerdem eine optimierte Produktions- und Transportplanung. Die Umstellung auf VMI bringt allerdings auch das Risiko hoher Investitionskosten mit sich. In der Implementierungsphase muss das Konzept sowohl in die Systemlandschaft des Händlers, als auch in die des Zulieferers integriert werden. Bei dieser auf Vertrauen basierenden Händler-Zulieferer-Beziehung muss einem bewusst sein, dass im Zuge dieses Vorganges auch sensible Daten offengelegt und ausgetauscht werden.
In der humanitären Logistik findet VMI bislang noch keine Anwendung. Die humanitäre Logistik, als Teil der humanitären Hilfe in Katastrophengebieten, befasst sich mit der Planung, Implementierung und Steuerung des effizienten Flusses und der Lagerung von Gütern und Materialien zur Linderung des Leidens von gefährdeten Menschen nach einer Katastrophe. Im Gegensatz zur kommerziellen Logistik ist es nicht der Händler, der seine Kunden mit Gütern und Dienstleistungen versorgt, denn eine Hilfsorganisation beliefert die Katastrophenopfer mit Hilfsgütern, ohne entsprechende monetäre Gegenleistung. Die humanitäre Logistik liegt in ihrer Entwicklung zeitlich ca. 10-20 Jahre hinter der kommerziellen, weshalb es großen Optimierungsbedarf gibt. Während die Strukturen und die Organisation der Wertschöpfungskette in der kommerziellen Logistik ähnlich zu denen der humanitären sind, liegt der größte Unterschied in der dynamischen Nachfrage der humanitären Logistik. Bedarfe sind im Vorhinein nicht gut zu prognostizieren, da es keine Vergangenheitsdaten gibt und eine Katastrophe (insbesondere eine natürliche) oftmals nicht vorhersehbar ist.
Die Zahl der Opfer kann nur grob geschätzt werden und muss im Laufe der ersten Tage nach Katastropheneintritt regelmäßig korrigiert werden. Hinzu kommt, dass der hohe Bedarf nach lebenswichtigen Gütern, wie Lebensmitteln oder sauberem Trinkwasser, in aller Regel die Lieferfähigkeiten der Organisationen überschreitet. Die Zulieferwege, wie Flughäfen, Häfen oder auch Straßen, sind nach einer Katastrophe häufig zerstört, was die Versorgung weiter verzögert und Lieferungen somit nicht zeitnah erfolgen können. In der humanitären Logistik steht in der Phase der Erstversorgung die Kosteneffizienz nicht an erster Stelle, sondern die Zeiteffizienz. In der kommerziellen Logistik geht eine zu verspätete Lieferung mit einer Einschränkung in der Produktion oder einem Rückstand in der Lieferkette einher. Dies wird meist mit Strafkosten auf Seiten des verantwortlichen Zulieferers gehandhabt. In der humanitären Logistik kann ein Lieferrückstand dafür verantwortlich sein, dass Menschen verhungern oder verdursten. Deshalb müssen Probleme in der Lieferkette unbedingt und umso mehr vermieden werden. Jede Lösung, welche die Wahrscheinlichkeit für Probleme in der Supply-Chain verringert ist gründlich zu prüfen.
Auf der Homepage der Universität Münster findet sich unter https://crisismanagement.ercis.org/ das Competence Centre for Crisis Management, dessen Hauptziel es ist, relevante Herausforderungen in diesem Zusammenhang zu identifizieren, die augenblicklichen Praktiken von Hilfsorganisationen zu untersichen und entsprechende Lösungen für den Bereich der Informationssysteme und des Supply Chain Managements zu finden. Auch das Thema Vendor-Managed Inventory ist dort in den Fokus gerückt.
Wie die Versorgungskette in der humanitären Logistik optimieren?
Um die Versorgungskette in der humanitären Logistik zu optimieren kann die Anwendung von VMI eine mögliche Lösung sein. Durch einen VMI-Einsatz müssten sich die Ersthelfer am Katastrophenort nicht um die Nachbestellung kümmern, da diese durch die Verantwortlichen Zulieferer aus der VMI-Kooperation erfolgt. Qualifizierte Zulieferer verfügen über zusätzliches Spezialwissen und haben gegebenenfalls mehr Erfahrung mit den lokalen Gegebenheiten am Katastrophenort. Eine humanitäre Hilfsorganisation besteht aus Mitarbeitern verschiedenster Fachrichtungen und freiwilligen Helfern, die für einen Einsatz geschult werden müssen. Es handelt sich um einen Zusammenschluss von Fachkräften. In ein soilches Gebilde fügt sich ein spezialisierter Dienstleiser nahtlos ein, der eine möglichst reibungslose Supply-Chain sicherstellt. Die Erfahrungen eines Logistikdienstleisters können zu effizienteren Abläufen der Wertschöpfungskette beitragen und die Lieferungen beschleunigen.
Um die Vorzüge von VMI theoretisch darzustellen können einige Kriterien bzw. Rahmenbedingungen exemplarisch herausgearbeitet werden, welchen ein VMI-Modell im Kontext der humanitären Logistik entsprechen sollte. Um beispielhaft die Anwendung in der humanitären Logistik zu simulieren werden im Folgenden öffentlich zugänglich dokumentierte Daten der International Federation of Red Cross (IFRC) über einen vergangenen Katastropheneinsatz aufgeführt und diese in das Modell eingesetzt. Die Ergebnisse des Modells zeigen die neuen Gesamtkosten im Falle der theoretischen Anwendung von VMI und außerdem die potenzielle Güterverfügbarkeit. Diese Ergebnisse wurden schlussendich mit den Kosten und der Verfügbarkeit der Güter im Einsatz verglichen.
Das den Kriterien entsprechende VMI-Modell soll nun anhand der gesammelten Daten angewendet werden. Explizit wurde dazu der Einsatz der IFRC auf den Philippinen im Jahr 2013 ausgewählt. Dort schlug am 8. November der Taifun “Haiyan” nieder. Über 6.000 Menschen starben in Folge dessen, 28.600 wurden verletzt und über vier Millionen verloren ihr Zuhause. Zu den dokumentierten Hilfsgütermengen gehören Decken, Schlafmatten, Nachttöpfe, Küchen-Sets, Hygiene-Sets, Mosquitonetze, Zelte, Abdeckplanen und Werkzeuge für den Bau von Unterkünften (Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente wurden in dieser Betrachtung ausgeschlossen).
Die Gesamtkosten des Einsatzes konnten um 26,6% verringert werden. An dieser Stelle ist jedoch zu beachten, dass die Vergleichskosten aus dem Datensatz der IFRC nicht nur den logistischen Kosten der aufgeführten neun Güter entsprechen, sondern auch für weitere Hilfsgüter, wie z.B. Nahrungsmittel und Medikamente, gelten.
Abbildung 1 veranschaulicht die Lieferungen und kumulierten Liefermengen der Hygiene-Sets vor und nach der Anwendung von VMI. Ohne die Anwendung von VMI treten erhebliche Schwankungen in den Liefermengen auf (siehe dazu Abbildung 2). VMI könnte konstantere Liefermengen nach Eintritt der Katastrophe ermöglichen. Das VMI-Modell berechnet konstante Liefermengen je Lieferung. Als Inputdaten wurde der Gesamtbedarf eingelesen, dementsprechend wurden die Liefermengen berechnet. Daraus ergab sich, dass bei VMI-Anwendung nur sechs Lieferungen nötig wären, um den Gesamtbedarf zu decken. Kritisch ist hier, dass der Gesamtbedarf für diese theoretische Anwendung aus dem 6-Monatsbericht stammt, welcher die Bedarfe aus vorherigen Berichten der IFRC kumuliert darstellt. In der praktischen Anwendung ist dieser Bedarf jedoch nicht im Vorhinein bekannt. In der Praxis bedarf diese Herangehensweise somit weiterer Verfeinerung und Anpassung.
Die Kriterien, nach welchen ein VMI-Modell für den humanitären Kontext ausgewählt werden sollte, sind:
- Ungewisse Nachfrage
- Lieferrückstand
- Transportkosten
- Bestellkosten
- Haltungs-/ Lagerkosten
- Beschränkte Lagerungskapazitäten
- Berücksichtigung mehrerer Produkte
- Berücksichtigung eines Vendors (Zulieferer) und eines Retailers (humanitäre Organisation)
- Optimale Bestellmenge
- Optimaler Lieferzeitpunkt
- Minimierung der gesamten Lagerungskosten
Fazit:
Durch die Anwendung eines VMI-Modells aus der kommerziellen Logistik kann theoretisch eine zuverlässigere Versorgung an einem Katastrophenort im Rahmen der humanitären Logistik ermöglicht werden. Die Ergebnisse des Optimierungsmodells zeigen, dass Kostenersparnisse, Steigerungen in der Verfügbarkeit der Hilfsgüter und konstantere Liefermengen zumindest in der Theorie möglich sind. Es gibt jedoch einige Punkte, wie z.B. die Einführung variabler Lieferzeitpunkte oder bedarfsentsprechende Liefermengen, die zusätzlich bei der Anwendung Berücksichtigung finden sollten.
Basierend auf der Bachelorarbeit von Johanna Schulze-Zumloh, verfasst am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Logistik unter der Leitung von Prof. Dr. Bernd Hellingrath, Sandra Lechtenberg und Adam Widera. Thema: „Beurteilung der Vorzüge von Vendor-Managed Inventory in der humanitären Logistik“ (Abgabe: 11.05.2018)
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