Logistik auf der Überholspur

7. November 2018 | Blog, Logistik

Palettenware per Stapler durch Hallen schieben? Macht ein Automat. Und bestellte Ware liefern Drohnen aus? Alles denkbar und machbar in der Welt der Logistik 4.0. Doch wie digital ist die Logistikbranche in Nord-Westfalen?

Bei flaschenpost.de in der Zentrale am Johann-Krane-Weg in Münster legt längst ein komplexer Algorithmus fest, welchen Weg die Getränke zum Kunden nehmen. Bei jedem Wetter vorbei an Staus pünktlich in spätestens zwei Stunden die bestellten Kisten Mineralwasser, Bier oder auch Klopapier abliefern, das ist das ehrgeizige Versprechen des Start-ups. Es ist vor zwei Jahren angetreten, um nicht mehr oder weniger als den deutschen Getränkemarkt zu revolutionieren. Die flaschenpost-Mitarbeiter sind auf der „letzten Meile“ unterwegs, der Königsdisziplin der Logistikkette. Dabei geht es um den Transport zur Haustür des Kunden. Unternehmen bündeln die Sendungen zu effizienten Touren in die Zustellgebiete, schon, um die Zustellkosten niedrig zu halten. Das für die letzten Meter zum Kunden nötige Zusammenspiel aus Kommissionieren, Verpacken und Ausliefern hat sich im digitalen Zeitalter gedreht. „Der Prozess muss sehr radikal vom Kunden aus gedacht werden“, beschreibt Franz Vallée, Logistik-Professor an der Fachhochschule Münster, den Wandel für die Logistik. Nicht mehr das Produkt, sondern der Kunde steht im Zentrum. „Spielfeld-Veränderung“ nennt Vallée das. Der Professor sieht einen kompletten Wandel vieler Geschäftsmodelle in den nächsten fünf Jahren mit weitreichenden Folgen für die Logistik voraus.

Bahn, Uber oder UPS

Das weltweite Logistik-Spielfeld ändert sich gerade – für alle. Ob Deutsche Bahn, Nutzfahrzeughersteller, Logistikunternehmen oder pfiffige Start-ups und internationale Herausforderer wie Amazon und Uber: Viele arbeiten an intelligenten Logistikketten. So hat der weltweit operierende Logistiker UPS gerade angekündigt, nach 111 Jahren sein Geschäftsmodell von Grund auf zu erneuern und künftig auf die junge Blockchain-Technik zu setzen. Transport berührt fast alle Bereiche der Industrie. Deshalb ist die Logistik auch die Branche, die sich in den vergangenen Jahren schon weit digitalisiert hat, wie Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder bestätigt: „Die Logistik ist bereits heute einer der digitalsten Unternehmensbereiche.“ Aber die Getränkelieferung gab es doch schon immer. Was ist also neu? „Das Segment Getränke wurde in den vergangenen 30 bis 40 Jahren stiefmütterlich behandelt“, wird flaschenpost-Gründer und heutiger Aufsichtsratschef Dieter Büchl zitiert, „obwohl jedem klar ist, dass Lieferungen absolut Sinn machen.“ Sein Start-up liefert im großen Stil montags bis samstags von morgens bis abends alles in die Wohnung, was der Kunde früher im Getränkemarkt holen musste. Es ist das Paradebeispiel dafür, wie digitale Technologien eingesetzt werden. Der Kunde bestellt fast nur noch per Internet, erklärt der Marketingchef von flaschenpost, Christopher Huesmann. Der Auftrag wird automatisiert erfasst, die Daten verarbeitet und vernetzt mit Daten über den Lagerbestand, Verkehr und Wetter. Die Rechnerleistung und die Algorithmen machen es möglich. Während die georderten Getränke im Zentrallager zusammengestellt werden, geht der Auftrag an einen Fahrer, dessen Tour digital zusammengestellt und berechnet wird.

Die Digitalisierung führt dazu, so schätzen Experten, dass Produktion, Handel und Logistik immer mehr und enger zusammenarbeiten. Eine weitere Reaktion: Die große Mehrheit der Unternehmen in der Branche setzt bereits heute digitale Technologien in der Logistik ein. Das hat eine repräsentative Umfrage, die im März vorigen Jahres veröffentlicht wurde, unter 508 Unternehmen mit Logistikprozessen im Auftrag des Digitalverbands Bitkom belegt. 84 Prozent der Befragten nutzen längst spezielle Lösungen, sechs Prozent planen konkret den Einsatz und weitere sechs Prozent können es sich vorstellen. Auf fahrerlose Stapler setzen schon jeweils ein Fünftel der Unternehmen. Und ein weiteres Viertel plant dies. Auf dem Vormarsch sind in Lagern demnach auch Datenbrillen für die Mitarbeiter und vereinzelt auch 3D-Drucker. Autonome Fahrzeuge, selbstlernende Maschinen und Drohnen, Elemente die gemeinhin für Digitalisierung stehen, tauchen bislang kaum in Logistikprozessen auf. Rohleder sieht voraus: „Aber mit Drohnen, autonomen Systemen und Artificial Intelligence steht der Logistik nicht nur eine Optimierung von Geschäftsprozessen bevor, sondern eine echte Revolution.“

Lagerroboter setzt der Grevener Logistikkonzern Fiege in Ibbenbüren ein. Dort werden online bestellte Schuhe kommissioniert. Die Fiege-Gruppe aus Greven zählt mit über 12 000 Mitarbeitern, 185 Standorten in 15 Ländern und über 1,5 Händler und Dienstleister dem Endkunden anbieten, leichter vergleichbar. Bei flaschenpost könnte vielleicht demnächst auch ein Lagerroboter die Getränke zusammenkarren. Doch bislang sind die Kisten dafür noch zu schwer, erklärt Betriebsleiter Niklas Plath (COO). Deshalb kommt derzeit eher noch smarte Lagerlogistik zum Einsatz. Vielleicht parkt bald auch hier ein fahrerloses und mit Strom betriebenes Lieferfahrzeug an der Rampe ein. Für Aufsehen sorgen auch Studien mit elektrisch-autonomen Lkw wie jüngst Volvo Trucks auf der IAA 2018 in Hannover zeigte. Der Elektroantrieb steht zumindest im Stadtverkehr für die Logistiker vor der Tür. Daimler-Vorstand Wolfgang Bernhard nannte zur IAA eine Jahreszahl: „Zellpreise und Leistung der Batterien kommen ab 2020 an einen Punkt, an dem sich die Technologie lohnt.“

Bis 2030 könnten sich durch autonomes Fahren und Digitalisierung die Logistikkosten nahezu halbieren, hat die Strategieberatung der Wirtschafts- prüfungs- und Beratungsgesellschaft PWC jüngst vorgerechnet. Eine durchgängig digitalisierte Lieferkette spare Verwaltungsaufwand, ersetze Inventuren, reduziere Fehler und spare Versicherungskosten. Aber noch werden bei flaschenpost.de viele Auslieferfahrer (in Münster knapp 400) gebraucht. Denn sie müssen die Getränkekisten auch zum Kunden schleppen, beispielsweise bis in die fünfte Etage. Das macht noch keine Maschine. Und der Kundenkontakt ist wichtig für die Zufriedenheit, sagt Huesmann. In Münster soll der Marktanteil des Unternehmens bereits bei 30 Prozent, gemessen am pro Kopf Verbrauch für Mineralwasser, liegen. Das Start-up expandiert seit gut zwei Jahren von Münster aus. Im vergangenen Jahr kam Köln als Standort hinzu, in diesem Jahr der Raum Mannheim und Düsseldorf. Auch die Präsenz im Ruhrgebiet wird weiter ausgebaut – Duisburg und Bochum sind kürzlich hinzugekommen, ebenso die norddeutschen Großstädte

Hamburg und Hannover. Logistikspezialist GREIWING in Greven setzt bei den Mitarbeitern und Fahrern die Digitalisierung ganz praktisch an: Mit einer eigenen App, die jeder auf seinem Diensthandy hat. Das Logistikunternehmen für rieselfähige Güter ist in den vergangenen zehn Jahren „sehr stark gewachsen“, betont Geschäftsführer Matthias Gehrigk. Bis zum Ende des Jahres werden an elf Standorten in Deutschland etwa 800 Mitarbeiter einen Jahresumsatz von rund 100 Millionen Euro schaffen.

Um Informationen schneller zu verteilen, zum Beispiel Arbeitsanweisungen zur sicheren Entladung empfindlicher Güter wie Rohkaffee oder Zucker, ist der direkte Kontakt zum Mitarbeiter hilfreich, sagt Tina Altner, Leiterin des Prozessmanagements bei GREIWING. Möglich macht es die Firmen-App, die zudem an Firmenjubiläen von Kollegen erinnert und zukünftig den Urlaubsantrag verarbeitet. Vor zehn Jahren, in der Wirtschaftskrise, hatte GREIWING gerade einmal 380 Mitarbeiter. Damals stellte das Unternehmen seine Datenverarbeitung auf SAP um. „Das war der richtige Zeitpunkt“, sagt GREIWING-IT-Leiter Marcus Oberfeld. Digitalisierung bedeutet heute bei GREIWING, Datenströme schnell zu machen und die Daten flexibel aufzubereiten. Und diese Kernaufgabe erledigen sie mithilfe der Dokumentenspezialisten von d.velop. Das Gespenst der Massenarbeitslosigkeit infolge der Digitalisierung sieht Gehrigk nicht: „Der Wandel ist schnell, aber er muss sich mit den Mitarbeitern vollziehen.“ Qualifizierung ist ihm wichtig. Zentrales Branchenproblem ist immer noch ein Mangel an Lkw-Fahrern, die längst auch weitreichende Entscheidungen vor Ort beim Kunden treffen müssen. Und dazu ist Erreichbarkeit wichtig. „Aber die Mobilfunknetze in Europa sind noch nicht flächendeckend und von gleichbleibender Qualität“, beklagt Gehrigk. Schon deshalb sehen die GREIWING-Praktiker autonome Lkw-Flotten und Kolonnenfahren von Lastern, das Platooning, so schnell noch nicht auf deutschen Straßen. Zum autonomen Fahren meint Ver- kehrsexperte Michael Schreckenberg, Professor an der Universität Duisburg-Essen am Lehrstuhl „Physik von Transport und Verkehr“: „Das werden wir auch in zehn Jahren nicht haben.“

Denn es fehlten zentrale Voraussetzungen. „Ohne Netzabdeckung werden wir mit den Fahrzeugen nicht fahren können.“ Angesichts knapper und teurer Rohstoffe für Batterien und Netzausbau schätzt er: „Wir werden auch noch in fünfzig Jahren mit Verbrennungsmotoren fahren.“ Am Rande der Vertreterversammlung der VR-Bank Westmünsterland in Dülmen sagte Schreckenberg über den NRW-Straßenverkehr: „In den nächsten zehn bis 15 Jahren wird alles nur noch schlimmer.“ Matthias Gehrigk fehlen für Logistik 4.0 neben Investitionen in Mobilfunk- und Stromnetze auch grundlegende Infrastruktur-Entscheidungen zum Verkehr auf den Straßen, der Bahn und den Kanälen: „Das ist eine Herausforderung für die Gesellschaft und eine wichtige Aufgabe für die Politik.“ Natürlich sieht er für die Logistik interessante digitale Lösungen bei Elektro- und Datenverkehr heraufziehen. „Wir sehen aber nicht, dass das gerade politisch und strategisch sauber angegangen wird.

Veröffentlicht im IHK Wirtschaftsspiegel 11/2018, S.58-61, Verfasser: Werner Hinse. Direktlink zum Beitrag.

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