Anticipatory Shipping
Wird „Anticipatory shipping“ die Spielregeln des E-Commerce grundlegend verändern?
Definition des Begriffs Anticipatory shipping
Liefern schon vor der Bestellung. Mit dem Begriff Anticipatory shipping ist die Anlieferung von Gütern in ein bestimmtes Gebiet oder zu einer bestimmten Adresse, bereits bevor der Kunde die Bestellung ausgelöst hat, gemeint. Die „Vorahnung“, dass der Kunde dieses Produkt bestellen möchte, basiert auf Daten, Suchhistorien, Merkzetteln, Warenkörben, etc. Anticipatory Shipping erlaubt Unternehmen, eine Prognose zu treffen, wann welche Waren in welcher Region nachgefragt werden, diese bereits dort bereitzustellen und somit Lieferzeiten zu verkürzen.
Herkunft des Modells
Bekannt geworden ist das Modell durch Amazon. Der e-Commerce Gigant wirbt damit, dass er Bestellungen vorhersagen und liefern kann, bevor der Kunde sich selbst des Bedarfes bewusst ist. Dies ist jedoch nicht der tatsächliche Ursprung des Modells. Bereits zuvor hat die US-amerikanische Armee ein Modell angewendet, dass sich C4I nennt. Das „C4“ steht in diesem Fall für „Computer, Command, Control and Communication“ und das „I“ für „Intelligence“. Mit dem Modell garantiert die Armee unter Verwendung eines Algorithmus die für den Einsatz benötigten Nachlieferungen an Munition, Instandhaltungsmaterial und Treibstoffmengen und ermöglicht damit eine vorausschauende Planung und Steuerung der eigenen Lieferkette.
Wo findet Anticipatory shipping Anwendung?
Aktuell ist Amazon der Vorreiter in der Anwendung und Entwicklung des Modells, jedoch ist Anticipatory Shipping auch für andere Unternehmen denkbar. Auf der einen Seite ist „Anticipatory Shipping“ für andere Handelsunternehmen interessant, sei es direkte Konkurrenz im e-Commerce Bereich oder auch den stationären Handel, um die Lagerhaltung und Verfügbarkeit von Artikeln zu optimieren. Auf der anderen Seite haben auch erste KEP-Dienstleister begonnen, bestimmte Algorithmen auf Basis von Daten anzuwenden, um eine stundengenaue Anlieferung von Paketen vorhersagen zu können und somit ihren Service zu verbessern.
Amazon als Entwicklungsführer im Handel
Im Jahr 2013 hat der Online-Händler Amazon ein Patent zum „Anticipatory Shipping“, dem vorausschauenden Versand, angemeldet. Aktuell bedeutet dies, die Ware in Versandzentren in der Nähe von potentiellen Kunden zu liefern, zu deponieren, um den Kunden letztendlich schneller beliefern zu können. Um den Bestellwunsch hervorsagen zu können, will der Händler verschiedene Quelldaten miteinbeziehen. Hier will sich der e-Commerce Riese sowohl auf in der Vergangenheit gekaufte Produkte, den Inhalt des Wunschzettels und betrachtete Artikel als auch auf die Verweildauer des Mauszeigers auf einem bestimmten Angebot, Retouren von Bestellungen und das Betrachten von Kundenrezessionen verlassen. Mithilfe eines Computer-Algorithmus will Amazon die Daten auswerten und auf der so gewonnenen Datenbasis das Kaufverhalten seiner Kunden prognostizieren.
Was sind Voraussetzungen für Anticipatory shipping?
Um „Anticipatory shipping“ durchführen zu können, benötigen Unternehmen eine riesige Menge an Daten, die ausgewertet werden müssen. In diesem Zusammenhang fällt heutzutage oft der Begriff „Big Data Management“. Dieses Thema hat mittlerweile sogar ein eigenes Berufsbild hervorgebracht, da die Verwaltung, gezielte Auswertung und Analyse der Daten für viele Unternehmen als Kernkompetenzen gelten. Hierfür ist auch ein funktionierendes dahinterstehendes IT-System von Bedeutung. Ohne eine funktionierende Systemlandschaft mit sauberen Schnittstellen zwischen den einzelnen Modulen wäre Anticipatory Shipping nicht vorstellbar. Neben der IT spielt auch die Logistik eine entscheidende Rolle.
Für die Planung eines Vorhersagemodells ist eine funktionierende Supply Chain das A und O. Konkreter bedeutet dies, dass nach Auswertung der vorhandenen Daten durch die IT die Waren zur richtigen Zeit, in der richtigen Menge, am richtigen Ort verfügbar sein müssen. Schon heute wirbt Amazon damit, in bestimmten Regionen innerhalb von zwei Stunden liefern zu können. Eine unbedingte Voraussetzung ist die Lagerung in der Nähe des Bestellortes. Händler können nicht jeden Artikel in einer unendlich großen Menge auf Lager halten, da dies zu hohen Lagerhaltungskosten führen würde und somit wenig profitabel wäre. Deshalb wird mit dem Zusammenspiel aus einer funktionierenden Logistik, die minuziös den Warentransport zwischen den verschiedenen Versandorten plant und Gütertransfers effizient umsetzen kann und Big Data Management auf Basis eines mängelfreien IT-Systems der Nachfrage nach bestimmten Produkten in konkreten Regionen ermittelt. Die so verschmolzene Informationen dienen als Basis um Ware zu verschiffen und in regionalen Hubs entsprechend der Nachfrage zu lagern.
B2B Customer Journey
Was Anticipatory Shipping für den Einzelkunden im B2B bzw. B2C Bereich bedeuten könnte, kann in einer exemplarischen Customer Journey dargestellt werden.
Im B2B Bereich kann das Szenario eines Werkzeugkaufes wie folgt aussehen. Der Business-Kunde wird im ERP-System über die Bestellanforderung eines Werkzeugs informiert. Durch die gute Vernetzung der IT des Unternehmens gelangt der Einkäufer mit einem Klick direkt in den Online-Shop des Lieferanten, der das Werkzeug anbietet. Hier kann der Lieferant Anticipatory Shipping anwenden, um den Kunden schnellstmöglich zu bedienen. Durch das vergangene Bestellverhalten weiß der Lieferant bereits, wann das Werkzeug voraussichtlich verschlissen ist und hat das benötigte Produkt auf Vorrat. In der Auftragsbestätigung wird die Lieferung am gleichen Tag mit einer Zeitangabe auf 30 Minuten genau zugesichert. So kann das Teil direkt verbaut und muss nicht zunächst eingelagert werden. Über eine mobile App bekommt auch der Projektleiter im Werk die Info der Anlieferungszeit übermittelt. Das Werkzeug trifft zum erwarteten Zeitpunkt ein und die Rechnung wird über abgestimmte Schnittstellen direkt an die Buchhaltung gesendet und ist zeitgleich auch im Online-Shop eingepflegt. Für den B2B Kunden bedeutet funktionierendes Anticipatory Shipping Zeit- als auch Kostenersparnis.
B2C Customer Journey
Auch im B2C Bereich ist ein Szenario dieser Art vorstellbar. Am Vormittag fällt einem potenziellen Kunden ein, dass er dringend noch eine Hose für die Feier am Abend benötigt. Auf Social Media wird dem Kunden ein interessantes Produkt vorgeschlagen, das auch in einem lokalen Geschäft in der Nähe vorrätig sein soll. An dieser Stelle kommt wieder Anticipatory Shipping ins Spiel. Die Hose wurde aufgrund der Kauf- und Onlinesuchhistorie von Kunden aus der Region sowohl in der gewünschten Farbe als auch in der benötigten Größe deponiert. Die betreffende Kunde reserviert die Hose im Online-Shop und testet sie zwei Stunden später noch einmal im Laden, um die Passform zu testen.
Location-based-Services
Durch Location-based-Services weiß der Anbieter, wann sich der Kunde in der Nähe der Filiale befindet und sendet per Push-Mitteilung die Nachricht, dass die Hose an der Information zum Testen bereit liegt. Das Produkt kann nun in einer smarten Umkleide anprobiert und mit anderen Bekleidungskomponenten kombiniert werden. Virtuell wird auch ein entsprechendes Oberbekleidungselement vorgeschlagen. Da dieses in der Filiale nicht in der richtigen Größe vorhanden ist, wird das Kleidungsstück aus einer nahegelegenen Filiale nach Hause nachgeliefert. Der Erhalt des Produktes innerhalb weniger Stunden wird durch Anticipatory Shipping garantiert.
Beim Zahlen verwendet der Kunde eine Bonuskarte, durch die das Unternehmen sowohl die Kundenloyalität sicherstellen möchte, aber gleichzeitig auch weitere Daten sammelt, um sich in Zukunft noch weiter im Leistungsangebot zu optimieren. Die Hose nimmt der Kunde gleich mit. Zu Hause wartet, wie gewünscht, bereits die Oberbekleidung und das Outfit für den Abend ist komplett. Auch in unserer erfundenen Customer Journey eines B2C-Kunden stecken eine Reihe von logistischen und IT-Prozessen hinter der Erfüllung des Kundenwunsches. Um diesen in geringer Zeit erfüllen zu können, sind die Produkte in Reichweite der Kundin geliefert worden, was mit der Auswertung der zuvor bereitgestellten Daten möglich gemacht wurde.
Grenzen des Anticipatory shipping
Jedoch hat auch Anticipatory Shipping Grenzen. Mit dem heutigen Stand der Möglichkeiten ist noch kein Unternehmen fähig, Anticipatory Shipping wirklich durchzuführen. Dies ist unter anderem auch auf die folgenden Faktoren zurückzuführen. Die Zusammenführung und konkrete Auswertung der Daten ist hoch komplex und erfordert Fachkompetenz. Viele Händler klagen über akuten Fachkräftemangel in diesem Bereich. Hinzu kommt die Digitalisierung von Prozessen, die in vielen Unternehmen fortschreitet, aber noch viele Potentiale ungehoben lässt. Hierfür muss sowohl die IT als auch die Logistik weiter optimiert werden.
Anticipatory shipping wird oft auch als „predictive“ (vorhersehbar) bezeichnet. Allerdings kann kein Unternehmen genau vorhersehen, was ein Kunde mit 100% Sicherheit demnächst wirklich bestellen wird. Das Ganze basiert auf gesammelten Daten, Suchhistorien, Merkzetteln und Wunschlisten. Jedoch sind hier keine Spontankäufe, Wunschänderungen oder Ausnahmen mit einberechnet. Deshalb ist die Treffersicherheit nur begrenzt. Kritiker sehen die begrenzte Reichweite des Modells. Während in urbanen Gebieten mit Verteilzentren in der Nähe das Ganze nicht unmöglich erscheint, sind ländlichere Gegenden wohl eher schwer mit dem Modell zu beliefern, ohne entweder mit steigenden Bestandskosten kalkulieren zu müssen oder gezwungenermaßen bei der Verfügbarkeit Abstriche zu machen. Allgemein bleibt noch fraglich, ob sich das Modell des Anticipatory Shipping als profitabel erweisen und durchsetzen kann.
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